Empowerment in der Hurenbewegung mit Spivak gedacht
Essay von Lillia Rubin
15.04.2021
„Klar geht der mit Friederike. Immer gute Laune hat die. Sagt, der Job macht ihr richtig Spaß. Sie kommt mittwochs und manchmal sonntags. Und dann sahnt die alle Kunden ab. Manche warten sogar oder kommen später wieder. Wäre ich Kunde, ich würde sie auch wählen. Ihr schlanker, durchtrainierter Körper, ihre gute Laune, ihr Charme und das Lächeln. Und dann ich mit meinen Schwangerschaftsstreifen auf dem schlaffen Bauch und meinen Sorgenfalten im Gesicht. Rufe meine Freundin an. Die hat nur ganz kurz angeschafft. War nix für sie. Und was sagt sie mir: ‚Mensch, hör doch auf mit dem Job, der macht kaputt, wie lange willst du dich noch verkaufen?‘ Ach halt doch die Klappe, lasst mich doch alle in Ruhe. Und die Klappe – die halte ich.“
Der Diskurs über Sexarbeit ist gespalten. Vor allem in der Frauenbewegung hat das Thema eine Schlagkraft wie kaum ein anderes. Das Zitat lässt auf eindrucksvolle und prägnante Weise verschiedene Probleme sichtbar werden, die in der täglichen Arbeit auftauchen können, die zwischen Kolleg*innen herrschen können, aber auch in der Art und Weise wie über Sexarbeit gesprochen wird. Sprechen und Hören sind die beiden Hauptmerkmale, die Spivak in ihren theoretischen Überlegungen zu Macht adressiert. Retrospektiv wird deutlich werden, dass einige Aspekte, der in diesem Text getätigten Analyse in diesen zwei Absätzen bereits deutlich zum Ausdruck kommen. Den Begriff „Hure“ verwende ich als empowernde Selbstbezeichnung. Er wurde vor allem in der Hurenbewegung der 80er Jahre in Deutschland von Sexarbeitenden reclaimt. Reclaiming meint die Aneignung eines ursprünglich beleidigend gegen eine Gruppe genutzten Begriffs durch diese Gruppe, um ihn so der Definitionsmacht der diskriminierenden Dominanzgesellschaft zu entziehen und eine eigene, positive Bedeutung damit zu verbinden. Es stellt damit einen Akt des Empowerments dar, wenn Sexarbeitende sich selbst mit diesem ursprünglich beleidigenden Begriff bezeichnen. Sollte der Titel zu provokativ gewirkt haben, sei hiermit deutlich gemacht, dass er von einer Hure geschrieben wurde. Als Sexarbeiterin und Sozialarbeiterin in einer Beratungsstelle für Sexarbeitende bin ich selbst in die Prozesse des Hörens und Sprechens über Sexarbeit auf verschiedenste Weisen eingebunden. Als Aktivistin in der Hurenbewegung trage ich Teile zum öffentlichen Diskurs und zu dem darin vermittelten Bild von Sexarbeit und Sexarbeitenden bei. Als Sozialarbeiterin habe ich auf eine Art Zugang zu Sexarbeitenden, auf die sonst nur wenige Menschen ihn haben, mit Wissen, das oft keinen Eingang in den öffentlichen Diskurs findet, außer Sozialarbeitende tragen es hinein, und der, vielleicht gerade deshalb, immer wieder von großem Interesse von Seiten der Forschung, der Berichterstattung und mitunter der Politik ist. Mit der Rolle der „Vermittlerin“, die mir in diesem Zuge zufällt, geht genau die von Spivak skizzierte Macht und Verantwortung der Intellektuellen einher. Wenn ich in dieser Arbeit von Machtverhältnissen innerhalb der deutschen Hurenbewegung schreibe, so ist dies also immer auch ein selbstreflexiver Ansatz für mich und meine politische Arbeit. Ich möchte also darlegen, dass manche Sexarbeitende in Deutschland im Sinne Spivaks subaltern sind und, dass daraus Schlussfolgerungen für die Hurenbewegung und das Empowerment von Sexarbeitenden in Deutschland zu ziehen sind. Ich möchte damit beginnen, mein Verständnis von Spivaks Theorie über die Subalternen darzulegen, und gebe dann einen kurzen Überblick über die Hurenbewegung bis heute. Als nächstes werde ich einige Aspekte aktueller Kämpfe und Probleme der Hurenbewegung skizzieren, um zuletzt Schlussfolgerungen aus den vorangegangen Darlegungen ziehen zu können. Spivak bezieht sich in ihrer Arbeit auf eine Vielzahl anderer Theoretikerinnen, insbesondere auf Marx und, in ihrem Text „Can the Subaltern speak?“, auf Deleuze und Foucault. Auch der Begriff „Subalternität“ geht auf Gramsci zurück, der ihn in seinen Gefängnisheften einführt und damit Menschen meint, die keiner hegemonialen Klasse zuzuordnen sind. Sie bilden eine antagonistische Position zu dominanten Gesellschaftsgruppen, ohne die Möglichkeit zu organisiertem, politischen Handeln und ohne ein gemeinsames Klassenbewusstsein. Sie sind nicht nur von ökonomischen Ausschlüssen, sondern von einer Vielzahl verschiedener Marginalisierungen betroffen, was sie in die Nähe des heute viel verwendeten Begriffs der „Mehrfachmarginalisierung“ bringt. Synonym sind die Begriffe jedoch nicht zu verwenden, geht der Begriff der Subalternität noch über den der Unterdrückung und der Mehrfachmarginalisierung hinaus. Gramsci formuliert das Ziel, diese Gruppen miteinander sowie mit der städtischen Arbeiterklasse zusammen zu führen, um so revolutionäre Kräfte zu vereinen.
Die „South Asian Subaltern Studies Group“ übernahm diese Perspektive und entwickelte sie für ihre eigenen Überlegungen zur postkolonialen Theorie weiter. Spivak nutzte die hieraus entstandene Definition von „Subalternität als eine[m] Raum, der innerhalb eines kolonisierten Territoriums von allen Mobilitätsformen abgeschnitten ist.“ (Dhawan und do Mar Castro Varela 2015). Subalternität ist hier über infrastrukturelle Gegebenheiten definiert, diese lassen sich jedoch gut auf andere, genauso oder weniger greifbare Ausschlussstrukturen und -mechanismen übertragen. Den Begriff „subalterner Raum“ werde ich auf den folgenden Seiten daher abstrakter als in der Bedeutung eines tatsächlich geographischen Raumes nutzen. Subalternität kann zusammengefasst werden als ein Status, der völligen Unsichtbarkeit. Ziel ist daher die Auflösung subalterner Räume, ein „Empowerment von Subalternen“ kann es in dem Sinne nicht geben, da Subalternität durch die Unterdrückung und den fehlenden Zugang zu hegemonialen, also in der Gesellschaft dominanten und machtvollen, Narrativen definiert ist.
Sobald Jemand Zugang zu diesen hat, ist die Person nicht mehr subaltern. Laut Spivaks Analyse können Subalterne nicht sprechen, da ihnen die Infrastruktur und Möglichkeiten dazu fehlen, sich Gehör zu verschaffen, nicht, weil ihnen per se ein Verständnis für die eigene Situation fehlt. Es sollte also durchaus möglich sein, Menschen aus der Subalternität zu verhelfen, was wiederum Empowermentprozesse bedeutet. Spivak sieht die Verantwortung hierfür, zumindest in ihrem Essay, welches sich direkt auf Foucault und Deleuze bezieht, bei den Intellektuellen. Sie kritisiert hiermit die Haltung von Foucault und Deleuze, welche sich in ihrem Gespräch dafür aussprechen, dass Menschen in der Lage sind für sich und ihre eigene (prekäre) Situation zu sprechen, so dass sie keine Intellektuellen benötigen, die sie repräsentieren. Spivak kritisiert dies als ein „sich der Verantwortung entziehen“ und stellt die Notwendigkeit der Repräsentation Subalterner durch Intellektuelle heraus. Gleichzeitig erwähnt sie jedoch die Unmöglichkeit, Subalterne angemessen zu vertreten. Repräsentantinnen werden sich also immer in einem Dilemma befinden, zwischen der Unmöglichkeit die diversen und höchst persönlichen Lebensrealitäten, in diesem Fall einers jeden Sexarbeitenden, abzubilden, ohne sich übergriffig Lebensrealitäten anderer anzueignen und gleichzeitig der Verantwortung, diese nicht zu ignorieren und damit unsichtbar zu machen. Hier zeigt sich klar die Notwendigkeit einer selbstreflexiven Repräsentationspraxis, z.B. durch aktivistische, politisierte Sexarbeitende. Diese finden sich in verschiedenen Strömungen der so genannten Hurenbewegung.
Die Hurenbewegung ist eine Bewegung, die sich in verschiedenen Teilen der Welt, während der 60er und 70er Jahre bildete und in der sich Sexarbeitende zusammenschlossen, um gegen die ungerechte Behandlung durch Gesetze und Gesellschaft zu protestieren. Ein Meilenstein dieser Proteste war der 2. Juni 1975, an dem über 100 Sexarbeiterinnen eine Kirche im französischen Lyon besetzten, um auf die prekäre Situation, (Polizei-)Gewalt gegen und Stigmatisierung von Sexarbeitenden aufmerksam zu machen und gegen die Kriminalisierung ihres Berufes zu protestieren. Dem Ereignis wird seit einigen Jahren mit dem „internationalen Hurentag“ am 2. Juni gedacht. In den 80er Jahren kam diese Bewegung auch nach Deutschland. Sexarbeit war damals schon nicht verboten, allerdings war das Ansehen der Sexarbeit und damit der in ihr tätigen Personen immer schon niedrig. Der Kampf galt also vor allem der gesellschaftlichen Stigmatisierung und damit auch gesetzlichen Regelungen, die von diesem Stigma mitbestimmt wurden und bis heute werden. Vor 2002 gab es eine Reihe von Regelungen z.B. um die „Prostitutionsförderung“, worunter Zuhälterei verstanden wurde, die das Arbeiten in der Sexindustrie sehr schwierig machten. Betreibende investierten selten in ihre Betriebsstätten, da sie im Fall einer Kontrolle alles verlören und ohnehin die meiste Zeit „mit einem Bein im Gefängnis“ standen. Auch die Zusammenarbeit unter Kolleginnen war illegalisiert und die abgeschlossenen Geschäfte mit Kundinnen waren sittenwidrig, Sexarbeitende konnten ihre Bezahlung im Falle einesr zahlungsunwilligen Kundin also nicht einklagen.
Wie auch die postkoloniale „South Asian Subaltern Studies Group“ Subalterne sichtbar machen wollte, indem sie eine Gegengeschichte zu historischen Entwicklungen der Dekolonisierung schrieben und feministische Bewegungen Gegendarstellungen zu gängigen androzentrischen Narrativen entwarfen, war eine Strategie der Hurenbewegung eine Gegenöffentlichkeit zu gängigen Stereotypen von Sexarbeit und Sexarbeitenden zu schaffen und die öffentliche Meinung wie auch das Selbstbild von Kolleginnen, z.B. durch Zeitungen und Veranstaltungen, mitzugestalten. Viele Selbsthilfevereine gründeten sich, wie Hydra in Berlin, Huren wehren sich gemeinsam (HWG) in Frankfurt oder Madonna in Bochum. Sexarbeitende traten als selbstbestimmt handelnde Akteurinnen auf und blieben nicht hinter den gängigen Bildern „Zwangsprostituierter“ oder „gefallener Mädchen“ zurück.
Einiges änderte sich mit dem Prostitutionsgesetz (ProstG) von 2002. Die hiermit gegebene Abschaffung der Sittenwidrigkeit wurde zwar nicht gänzlich akzeptiert und umgesetzt, die Möglichkeit des Einklagens einer Bezahlung für geleistete Arbeit war aber durch das Gesetz explizit gegeben.* Auch die Förderung der Prostitution wurde zumindest in ihrer damaligen Form aus dem Strafgesetzbuch entfernt. Das ebnete den Weg für eine weitere Organisation von Sexarbeitenden und anderen Beteiligten der Szene. Es entstanden der Bundesverband sexuelle Dienstleistungen e.V. (BSD) und später der Berufsverband sexuelle und erotische Dienstleistungen e.V. (BesD), die mittlerweile europaweit größten selbstorganisierten Verbände von Menschen aus der Sexindustrie. Beide fungieren heute als Ansprechpersonen und Expertinnen zum Thema Sexarbeit und agieren als bedeutende Akteurinnen in der öffentlichen und politischen Diskussion darum. Eine große Hürde, die zu Beginn dieser Entwicklung genommen werden musste, war die Vereinigung unterschiedlichster Berufsgruppen und Selbstverständnisse innerhalb der Sexarbeit, um sich zu einem gemeinsamen politischen Kampf zu solidarisieren. Denn auch innerhalb der äußerst diversen Sexarbeitsszene gab und gibt es Vorurteile, Missgunst und Abgrenzung voneinander in Form einer als „Whorearchy“ bezeichnete Hierarchisierung verschiedener Berufsgruppen.
Da aus der liberalisierten Gesetzgebung auch ein Anstieg der (sichtbaren) Sexarbeit resultierte, gab es bald Stimmen, die wieder eine Regulierung der Branche forderten. Besonders nach der EU-Osterweiterung in den Jahren 2004 und 2007 reisten viele Arbeitsmigrantinnen aus den entsprechenden Ländern ein. Bestimmte feministische Strömungen begannen, entgegen der Forderungen von Sexarbeitenden, eine Abschaffung der Sexarbeit und eine Implementierung von aus ihrer Sicht schützenden Regularien zu fordern. Aus diesem Diskurs entstand das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG). Mit diesem gingen wieder repressivere Maßnahmen gegen Sexarbeitende einher, wie die jährliche, verpflichtende Gesundheitsberatung und die namentliche Anmeldung bei einer Behörde als Voraussetzung einer legalen Tätigkeit in der Sexarbeit in Deutschland. Auch die Unverletzlichkeit der Wohnung wurde, beispielsweise durch das Polizeigesetz NRW, vorgeblich zum Schutz von Sexarbeitenden, für selbige eingeschränkt. Noch heute wird die Debatte um Sexarbeit emotional geführt. Vor allem in der feministischen Bewegung wird die Frage nach pro oder contra Sexarbeit kontrovers diskutiert. Oft stehen sich Sexarbeitsgegnerinnen und Zusammenschlüsse von Sexarbeitenden mit ihren jeweils gegenteiligen Interpretationen der Situation gegenüber. Eine der Streitfragen ist dabei, ob eine sichere Ausübung der Sexarbeit vorstellbar ist oder nicht. Sexarbeitsgegnerinnen verneinen diese Frage pauschal und definieren Sexarbeit grundsätzlich als eine Form der Gewalt gegen Frauen im Patriarchat. Sie argumentieren, dass Sexarbeit einer der patriarchalen Wege sei, Männern Frauenkörper verfügbar zu machen und bezeichnen Sex gegen Geld entsprechend als „bezahlte Vergewaltigung“. Sie fordern daher die Bestrafung der Kundinnen in Form eines Sexkaufverbots. Diese Sichtweise knüpft einerseits an Mythen über sexualisierte Gewalt an. So seien Vergewaltigungen an die körperlich empfundene Lust von Opfer und Täterin geknüpft und da Sexarbeitende nicht aus eigener Lust heraus die Lust ihrer Kundinnen befriedigen, sondern auf Grund der Bezahlung, würden sie vergewaltigt. Dies blendet aus, dass es bei sexualisierter Gewalt weder von Täterinnen- noch von Opferseite um Lust geht. Täterinnen wenden diese in aller Regel aus einem Machtgefühl heraus und zur Demonstration desselben an und nicht primär, um ihre Sexualität auszuleben, wohingegen das Aufsuchen einesr Sexarbeitenden für Kundinnen sehr wohl in der Regel das Ausleben der eigenen Sexualität bedeutet. Auch für Opfer ist nicht per se die eigene Lust ausschlaggebend, sondern eine getroffene Entscheidung, der gegebene bzw. im Fall einer Vergewaltigung nicht gegebene so genannte „Consent“, also die Einwilligung zu sexueller Interaktion. So können auch Vergewaltigungsopfer trotz ausgesprochener Ablehnung Lust empfinden, was die Situation für Betroffene auch aufgrund der angesprochenen Mythen oft noch schwerer ertragbar macht. Ebenso können Sexarbeitende unabhängig von ihrer Lust Consent geben oder verweigern. Wer glauben machen will, jede sexuelle Handlung gegen Geld sei eine Vergewaltigung, dramatisiert die Situation von Sexarbeitenden zu einem Punkt, an dem tatsächliche Probleme nicht mehr erkannt und wirklich erlebte sexualisierte Gewalt nicht mehr benannt werden können. Andererseits zeugt sie von einer sehr heteronormativen Sicht auf die Sexarbeit. Sie schreibt die Rolle der weiblichen Sexarbeiterin und des männlichen Kunden fest in die Konzeption von Sexarbeit hinein und manifestiert sie damit. Zudem schreibt sie, z.B. mit der häufig fallenden Aussage „keine Frau könne das freiwillig tun“ die sexuelle Lust allein dem Mann zu und führt damit eine klassisch patriarchale Argumentationslinie zur Unterdrückung weiblicher Sexualität fort. Tatsächlich mag die Mehrheit der Sexarbeitenden weiblich und der Kunden männlich sein und mit Sicherheit liegt dieser Umstand in patriarchalen Strukturen begründet. Die Hurenbewegung war daher immer auch Teil der feministischen Frauenbewegung. Sieht man genauer hin bemerkt man allerdings, dass die Szene weitaus diverser ist, als sie zunächst wirken mag. Geschlechterrollen werden im Sinne aktueller queer-feministischer Diskurse hinterfragt und aufgebrochen. Es gibt Sexarbeitende jedweder geschlechtlicher Identität, weibliche Kundinnen, männliche Escorts, gleichgeschlechtliche Angebote, intergeschlechtliche und nicht-binäre Sexarbeitende, die Aufklärungsarbeit leisten und verschiedenste Wahrnehmungen von Geschlecht und Sexualität normalisieren. Warum sollte sich diese Entwicklung mit einer Weiterentwicklung der Gesellschaft nicht ebenfalls in der Sexarbeit fortsetzen? Viele Sexarbeitende in legalisierenden Staaten beweisen bereits, dass eine, für die Gesellschaft und das darin herrschende Geschlechter- und Rollenverständnis sowie die Sicht auf Sexualität, wertvolle und zudem für die Arbeitenden sichere und gewaltfreie Art Sexarbeit zu betreiben, möglich ist. Stellt man die Frage nach der Freiwilligkeit, muss diese nicht nur in Bezug auf Sexarbeit gestellt werden, sondern konsequenterweise auch auf jede Form der Lohnarbeit im kapitalistischen System übertragen werden. Solange Menschen gezwungen sind ihre Existenzgrundlage durch Arbeit zu sichern, kann es in keinem Fall eine wirklich freie Entscheidung für oder gegen diese geben, die Entscheidung kann lediglich durch eine größere oder geringere Wahlfreiheit beeinflusst sein. Wie Sexarbeitende es immer wieder selbst sagen, liegt das Problem also nicht in der Sexarbeit an und für sich, sondern in den Umständen und (Arbeits-)Bedingungen, unter denen diese in unserer heutigen Gesellschaft stattfindet. Dies wird auch in dem oft verwendeten Ausspruch der Hurenbewegung „Rights not Rescue“ deutlich. Ziel sollte also sein, die Umstände und Strukturen so zu verändern, dass Sexarbeitende Rechte haben, empowert werden und in der Folge in der Lage sind über sich, ihre Lebensumstände und ihre Arbeitsbedingungen selbstbestimmt zu entscheiden. Dieses Ziel ist eng verknüpft mit dem Ziel alle Menschen aus der Armut zu befreien, da Sexarbeit vor allem für armutsbetroffene Frauen oft eine Bewältigungsstrategie ihrer Situation darstellt. Armut und für Betroffene nachteilige Regelungen von (Arbeits-)Migration machen Menschen vulnerabel für Ausbeutungsverhältnisse. Diesen Umstand zu missachten und das Problem allein der Sexarbeit an sich zuschieben zu wollen, bedeutet Menschen in der Sexarbeit unsichtbar zu machen und sich die Diskurshoheit über ihre Leben anzueignen. Dies sind Erkenntnisse, die aus den letzten 40 Jahren Hurenbewegung und den politischen Anstrengungen verschiedenster Menschen in der Sexarbeit deutlich geworden sind.
Es gab allerdings auch Veränderungen in der Szene sowie innerhalb der Bewegung. So war eine verbreitete Auffassung der aufkommenden Hurenbewegung, dass nicht positiv über Arbeit und Kundinnen gesprochen wurde, Spaß an der sexuellen Begegnung mit Kundinnen galt als unprofessionell. Im Gegensatz dazu ist heute eine andere Sichtweise prägend, Sexarbeitende stellen sich als Dienstleisterinnen wie in anderen Branchen dar, Professionalität wird über einen zuvorkommenden Umgang mit Kundinnen und eine positive Einstellung zur eigenen Tätigkeit verbunden. Das so genannte „Happy Hooker“-Narrativ hat seinen Weg in den Diskurs gefunden. Aus dem Klischee der unfreien und bemitleidenswerten Sexarbeiterin, Stichwort „Niemand/keine Frau macht so etwas freiwillig“, entstand die subjektiv empfundene Notwendigkeit, den Beruf unbedingt positiv darstellen zu müssen. Heute findet man Sexarbeitende, die die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung immer wieder betonen und die Legitimierung ihrer Arbeit allein darauf stützen, wieviel Spaß ihnen diese mache. Das führt zu unterschiedlichen Problemen. Missstände werden mitunter, durch mangelnde Aufmerksamkeit oder Angst diese anzusprechen, in der politischen Arbeit vernachlässigt und Unterschiede, beispielsweise in Zugangsvoraussetzungen zu Ressourcen, heruntergespielt. Gleichzeitig wird jeder Sexarbeitende, derdie einen positiven Bezug zur eigenen Arbeit hat, von Sexarbeitsgegnerinnen als nicht repräsentative Ausnahme und damit irrelevant geframet. Daneben gibt es aber natürlich Sexarbeitende, denen die Arbeit keinen oder nicht immer Spaß macht, die sie lediglich als (unter Umständen einzige) Möglichkeit sehen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die sich aber dennoch nicht als Opfer sehen und sich auch kein Sexkaufverbot wünschen. Aus den Erfahrungen, die ich mit Kolleginnen in verschiedenen Kontexten gesammelt habe, vermute ich, dass dies den größten Teil aller Sexarbeitenden in Deutschland ausmacht. Ihre Stimmen hört man allerdings selten, ebenso Betroffene, die von prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Gewalt berichten, ohne dabei den gesamten Beruf zu delegitimieren. Nicht nur ist Opfer von Gewalt zu sein ohnehin mit einem Stigma Verbunden, hinzu kommt das so genannte „Hurenstigma“, also die spezifischen Vorurteile gegenüber Sexarbeitenden und die Diskriminierung, der man sich aussetzen muss, wenn man als Betroffener öffentlich über das Thema spricht. Das Hurenstigma ist in verschiedenen europäischen Ländern außerhalb Deutschlands noch ausgeprägter als innerhalb Deutschlands, wobei auch hier im Falle eines Outings als Sexarbeiterin mit Anfeindungen zu rechnen ist. Es hält Sexarbeitende regelmäßig davon ab, sich für ihre Interessen einzusetzen, sei es, um sich selbst oder die Familie zu schützen oder, häufig, damit genau diese nichts von der ausgeübten Tätigkeit mitbekommt. Darüber hinaus besteht ein weiterer Silencingmechanismus in der Tatsache, dass wann immer Menschen aus der Sexarbeit über Missstände sprechen, ihre Aussagen in die Argumentation von Sexarbeitsgegnerinnen einbezogen werden. „Nee, ich würd mich nicht trauen das zu sagen, weil ich weiß ja, wie es benutzt wird“ erklärt mir eine Kollegin auf die Frage, ob sie mit den furchtbaren Erfahrungen, die sie in deutschen Bordellen gemacht hat an die Öffentlichkeit gehen würde. Von anderer Seite wird die strukturelle Gewalt als offensichtlicher Teil des Berufs und damit sozusagen selbstgewähltes Berufsrisiko bagatellisiert oder auf eine persönliche Ebene verschoben und Tipps für ein erfolgreicheres Arbeiten vermittelt. Auch in den Medien ist die Teilung in solche Extreme zu beobachten, ein differenziertes Bild der Situation von Sexarbeitenden wird selten gezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist der vorgeblich dokumentarische Film „Lovemobile“ einer Filmemacherin aus Niedersachsen. Sie wollte einen kleinen Ausschnitt der diversen Sexarbeitsszene am Beispiel einer Dokumentation über in Wohnmobilen arbeitende Sexworker an einer Landstraße in ihrer Nähe zeigen. Nach eigenen Angaben fand sie die Frauen immer schon faszinierend und bewundernswert. Der NDR unterstützte das Vorhaben. Leider fand sich keine Sexarbeiterin, die öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen wollte oder konnte, eine sei kurzfristig ausgefallen, also erfand die Journalistin verschiedene Figuren. Der NDR war äußerst zufrieden mit dem Ergebnis und strahlte den Film aus, ohne allerdings zu bemerken, dass bis auf eine Person, alle Protagonistinnen lediglich von Schauspielerinnen dargestellt wurden. Zu stimmig schien offenbar das gezeichnete Bild, zu groß die Freude „diese seltene Gattung endlich einmal vor die Kamera bekommen zu haben“. Die Realität in dem Film entspricht offenbar dem Bild von Sexarbeit, das der NDR und viele andere Menschen haben, es passt in die Erzählung der bemitleidenswerten, verlorenen jungen Frau. Sehr symptomatisch drückt die Urheberin das in ihrer Antwort, auf den Betrug angesprochen, aus, indem sie behauptet, ihre Darstellung sei eine „viel authentischere Realität“. Die ursprüngliche Idee einer differenzierten Erzählung über Frauen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen wurde auf das einzig erzählbare Narrativ zusammen gekürzt. Eine 60 jährige Sexarbeiterin, die dem Film eine andere Richtung gegeben hätte, Ansätze eines zufriedenen Lebens mit dem Wohnmobil gezeigt hätte, wurde von der NDR-Redaktion kurzerhand entfernt. Sexarbeitende kamen nicht zu Wort. So entsteht ein Diskurs in der Öffentlichkeit zwischen selbstbestimmter, freudig arbeitender Sexarbeiterin und derm, nur die Gewalt und Opferperspektive hervorhebendenm, Sexarbeitsgegnerin, oft Sozialarbeitende oder ehemalige Sexarbeitende. Auch hierin zeigt sich eine Silencingstrategie, die darin besteht Sexarbeitenden ihre Agency, also ihre Fähigkeit für sich selbst zu urteilen, abzusprechen. Aktive Sexarbeitende würden all ihre Trauma nur verdrängen, noch nicht wissen, wie sehr sie unter ihrer Arbeit litten. Wenn Sexarbeitende jedoch über ihre Traumata, ihre Verletzungen und psychischen Leiden sprechen, so ist „klar, woher das kommt“, „wäre abzusehen gewesen“ und die Möglichkeit den Job dennoch weiter ausführen zu wollen wird mit Unverständnis abgestraft. Ein konstruktives Sprechen über Sexarbeit inklusive der zugehörigen Probleme ist nicht möglich, da immer eine der voran beschriebenen Interpretationen zuvorkommt. Hierin zeigt sich ein hegemonial strukturiertes Hören in der deutschen Gesellschaft und damit eine Subalternität unter Sexarbeitenden, die in dieser Gesellschaft leben und arbeiten. Sexarbeitende werden unterdrückt, erleben Diskriminierung und sind von Stigmatisierung betroffen, aber nicht alle Sexarbeitenden sind subaltern. Man könnte versucht sein migrantische Sexarbeitende als „die subalternen Sexarbeitenden“ zu definieren, aber natürlich ist auch nicht jeder migrantische Sexarbeitende unsichtbar und unfähig für sich zu sprechen. Subalternität ist weniger eine klar zu umreißende Gruppenbeschreibung als vielmehr ein Zustand, der durch seine Prekarität und die daraus resultierende Unsichtbarkeit definiert ist. Migrationserfahrungen, Rassifizierung, Klassenzugehörigkeit, Drogengebrauch, Geschlecht oder die Verortung innerhalb der bestehenden Whorearchy können dabei unter anderen Faktoren eine Rolle spielen. Doch nicht nur das Stigma und die Feindlichkeit gegenüber Sexarbeitenden verwehren Zugänge zum öffentlichen Diskurs, zu Zeitungen, Film und Fernsehen, sozialen Medien, zu Forschung und Wissenschaft. Natürlich tragen hierzu auch Sprachbarrieren bei, finanzielle Ressourcen, Fähigkeiten, Elternschaft, zeitliche Ressourcen, technische Ausstattung, der Umgang mit drogengebrauchenden Menschen, Intersektionen mit anderen Diskriminierungsformen und vieles mehr. Welche Schlussfolgerungen lassen sich hieraus nun für die deutsche Hurenbewegung ziehen? Spivak formuliert die notwendige Intervention als „subalterne Räume auflösen“. Zunächst einmal muss hierfür die Teilung innerhalb der Szene wahrgenommen, das Schweigen bestimmter Gruppen von Sexarbeitenden gehört werden. Dabei kann es nicht darum gehen privilegierte Sexarbeitende mundtot zu machen, wie Sexarbeitsgegnerinnen dies mit der Zuschreibung einer Minderheitenrolle immer wieder versuchen. Im Sinne des Empowerments müssen Betroffene derselben Stigmatisierung weiterhin als Expertinnen anerkannt bleiben und können als legitime Repräsentantinnen auch für subalterne Sexarbeitende fungieren. Es gilt aber die spezifischen Rahmenbedingungen zu analysieren und zu verändern, durch die bestimmte Gruppen von Sexarbeitenden im öffentlichen Diskurs nicht vorkommen. Teil dieser Rahmenbedingungen kann zweifelsohne die Einnahme von Raum durch privilegierte Sexarbeitende sein, der marginalisierteren Sexarbeitenden damit nicht mehr zur Verfügung steht. „Platz zu machen“ oder neu zu schaffen kann also als ein Baustein des Empowerments und des Auflösens subalterner Räume gesehen werden. Darüber hinaus muss es aber auch darum gehen, an Stellen, an denen Kolleginnen Raum einnehmen und eine Stimme haben, ob in Interviews in Zeitungen und Fernsehen, für die Öffentlichkeit oder Forschung oder in Gesprächen mit Entscheidungsträgerinnen, subalterne Kolleginnen mitzudenken. Das bedeutet einerseits die bestehende Repräsentationsverantwortung, andererseits aber auch die eigene Unfähigkeit der Repräsentation anzuerkennen und weitergehend zu fragen, worin die eigene Involviertheit mit den Prozessen der Subalternisierung besteht? Dazu können beispielsweise Forderungen, wie die Professionalisierung von Sexarbeit gehören, während die Arbeit als Sexworker für viele gerade eine Bewältigungsstrategie für die Unerreichbarkeit von Professionen darstellt. Ebenso kann Gatekeeping eine Rolle spielen: Zugänge managen und für sich selbst zu beanspruchen ist eine negative Form des Gatekeeping, die Kolleginnen ausschließt. Das Konzept kann allerdings auch im positiven Sinne genutzt werden, um Kolleginnen zu schützen oder gute Konditionen auszuhandeln z.B. für Interviews ein Honorar, Sprachmittlung, gesicherte Anonymität, um damit Zugänge zu ermöglichen. Das Ausblenden von Diskriminierungsintersektionen ist ein großer Faktor beispielsweise in Form von Forderungen nach einer repressiven Migrationspolitik, da unter deutschen und migrantischen Sexarbeitenden ein Konkurrenzdruck besteht. Insgesamt muss erkannt werden, dass verschiedene Themen, wie Armut, Drogenpolitik, Geschlechterverhältnisse und Migration, nicht von Sexarbeitspolitik zu trennen sind. Politische Arbeit, die diesen Umstand nicht reflektiert, wird immer nur einen kleinen Teil der Sexarbeitenden erreichen und repräsentieren können. Die Hurenbewegung muss also intersektional denken und handeln. Die Dissonanz zwischen der alltäglichen Realität in der Sexarbeit und Aussagen äußerst privilegierter oder privilegiert wirkender Sexarbeitender gibt Sexarbeitsgegnerinnen ihre Diskurshoheit. Die deutsche Hurenbewegung muss eine Priorität darin setzen auch prekär arbeitende Kolleginnen wahr- und ernst zu nehmen, um ihre Situation und ihre Forderungen mit in den öffentlichen Diskurs aufzunehmen und in politische Debatten und letztendlich auch Entscheidungen einbringen zu können, ohne dabei ihre Rechte zu beschneiden oder ihre Existenzgrundlage zu gefährden. Für meine eigene Position als sehr privilegierte Sexarbeiterin und Sozialarbeiterin bedeutet dies vor allem, wo ich kann Raum abzugeben bzw. Kolleginnen zu unterstützen mit in die geöffneten Räume einzutreten. In eigenen Interviews und Gesprächen bedeutet es, den eingenommenen Raum zu nutzen, um für Kolleginnen zu advocaten, also für sie Partei zu ergreifen, die mit weniger Privilegien arbeiten als ich. Dies bedeutet auch wo ich kann Kolleginnen zuzuhören und von ihren Erfahrungen zu lernen.
Für mich persönlich waren die ersten Gespräche mit Kolleginnen über ihre nicht Lust- sondern Pragmatismus-geleiteten sexuellen Kontakte und ihre ganz bewusste Entscheidung dafür schockierend und schmerzhaft. Ich habe einige Zeit gebraucht, um diese Erzählungen mit meinem feministischen Weltbild in Einklang bringen zu können. Privilegiertes Wissen und hegemoniales Hören zu verlernen bedeutete für mich in diesem Fall die Agency meiner Kolleginnen, also die Fähigkeit über das eigene Leben selbst zu bestimmen, anzuerkennen und ihre Entscheidungen zu akzeptieren, so sehr ich persönlich auch mit diesen hadere, um dann an ihrer Seite für eine Veränderung der Umstände kämpfen zu können.
Dhawan, Nikita / do Mar Castro Varela, María: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2015
Heying, Mareen: Die Hurenbewegung als Teil der Zweiten Frauenbewegung. In: Digitales Deutsches Frauenarchiv URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-hurenbewegung-als-teil-der-zweiten-frauenbewegung. [Stand: 02.04.2021]
Lakomy, Hanna: Doku-Nutten. Wie die „Lovemobil“-Regisseurin Elke Lehrenkrauss von einem NDR-Redakteur zum Bauernopfer gemacht wurde. Die Analyse des Skandals hinter dem Skandal. Berliner Zeitung vom 03.04.2021, S. 43
Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien-Berlin 2011
Steel, Velvet / Rebelde, Ruby / Künkel, Jenny: Intersektionalität in der Sexarbeitsbewegung. Vortrag im Rahmen der Feministischen Aktionswochen Bochum. URL: https://whoroscope.eu/2021/03/12/intersektional-6-seance/. [Stand: 03.04.2021]
Steyerl, Hito: Die Gegenwart der Subalternen. In: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien-Berlin 2011
Weber, Johanna: Sexarbeit – Vortragsreise durch verschiedene Lebenswelten zwischen Stigma und Vorurteilen. URL: https://vimeo.com/505633421. [Stand: 13.04.2021]
*In einer früheren Version des Textes hieß es: "Einiges änderte sich mit dem Prostituiertengesetz (ProstG) von 2002. Hierin wurde die Sittenwidrigkeit zwar nicht gänzlich abgeschafft, die Möglichkeit des Einklagens einer Bezahlung für geleistete Arbeit aber explizit gegeben." Ich habe in der aktuellen Version zum einen den falsch angegebenen Namen des Gesetzes geändert und zum anderen mein Verständnis der rechtlichen Situation 2002 aktualisiert. Die Sittenwidrigkeit wurde sehr wohl abgeschafft (siehe https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155364/zehn-jahre-prostitutionsgesetz-und-die-kontroverse-um-die-auswirkungen/), das wurde von manchen Gerichten wohl nur nicht entsprechend angewandt, wie ich aus der persönlichen Erzählung einer Kollegin über ein von ihr geführtes Gerichtsverfahren weiß.